Milos-Viper (Macrovipera schweizeri)

Milosviper, grau
Milosviper, grau
Milosviper, rot
Milosviper, rot

Fotos: Mario Schweiger

Interview mit Mario Schweiger

Frage:
Mario, seit vielen Jahren höre ich in Milos die abenteuerlichsten Geschichten über die Vipera lebetina. Die Geschichten von manchen Einheimischen, also zwei Meter lange Schlangen, die fünf Meter weit springen usw., übertreffen bei weitem das, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Wie groß wird denn nun eigentlich diese Viper?

Mario Schweiger:
Die bekannte Maximallänge ist etwa 110 cm, doch normalerweise erreicht sie zwischen 50 und 70 cm.

Frage:
Und wie weit kann eine Schlange dieser Größe springen? Kann man überhaupt von "springen" sprechen?

Mario Schweiger:
Springen bzw. jemanden anspringen kann sie aus physiologischen, morphologischen Gründen nicht. Die Entfernung, wie weit eine Viper gegebenbenfalls zubeißen kann, entspricht im günstigsten Fall ihrer Körperlänge, normalerweise aber etwa 50% ihrer Körperlänge. Eine Macrovipera schweizeri kann einen also bestenfalls aus einer Entfernung von 70 cm beißen.

Frage:
Manche Leute, die außerhalb der Ortschaften wohnen, haben Angst, Schlangen könnten sich ins Haus verirren. Ich kenne Leute, die aus diesem Grund das ganze Haus einschließlich der Terrassen mit einer Mauer umgeben haben. Das Ganze ist etwas erhöht gebaut und man kommt also nur über mehrere Treppenstufen ans Haus heran. Kann eine Viper normale Treppenstufen überwinden?

Mario Schweiger:
Eine Viper kann eine senkrechte Fläche überwinden, die in etwa 3/4 ihrer Körperlänge entspricht. Voraussetzung ist, dass der vorherige Untergrund rau ist, um Halt zu finden, zum Beispiel Beton und speziell in Ecken. Normale Treppenstufen sind also kein Hindernis, wenn die Schlange es darauf anlegt. Wenn man in einer Gegend, in der es Schlangen gibt, ein Haus hat, sollte man vermeiden, alles herumliegen zu lassen, das Mäuse anziehen oder den Schlangen einen Unterschlupf bieten könnte. Auch die Macrovipera schweizeri würde sich dort wohlfühlen.

Frage:
Du sagst immer Macrovipera schweizeri. Ich kenne die Schlange unter dem Namen Vipera lebetina, oder Vipera lebetina schweizeri. Was ist denn jetzt richtig? Es ist doch eine Viper, oder ist eine "Macroviper" etwas anderes?

Mario Schweiger:
Der nun schon viele Jahre gültige Name ist Macrovipera schweizeri. Zur Bezeichnung Macrovipera: Die echten Vipern bestehen aus etlichen Gattungen, zum Beispiel Bitis (Puffotter, Bitis arietans), Daboia (Kettenviper, Daboia ruselli), Cerastes (Sahara-Hornviper, Cerastes cerastes) usw. 1992 kam man anhand von biochemischen Untersuchungen darauf, dass die Großvipern, jetzt Macrovipera, nur entfernt mit den eigentlichen Vipern (Kreuzotter, europäische Hornotter, Aspis- und Wiesenotter) verwandt sind, und so eine eigene Gattung - eben Macrovipera - gerechtfertigt und notwendig ist.

Frage:
Und "schweizeri", ist das eine Unterart der "lebetina"?

Mario Schweiger:
Franz Werner hat 1935 zur Art Vipera lebetina die Unterart Vipera lebetina schweizeri beschrieben. Aber dann haben sowohl morphologische Untersuchungen (Anzahl der Kopf- und Körperschuppen) als auch biochemische Untersuchungen (DNA) gezeigt, dass die Milosviper seit mindestens 12 Mio. Jahren (das ist ungefähr das Alter des Milos-Archipels) von der Levanteotter in Kleinasien und Zypern (eben Macrovipera lebetina) isoliert und somit als eigene Art zu betrachten ist. In gleicher Arbeit wurden übrigens die früher auch als Unterarten von Macrovipera lebetina geführten Atlas- (Macrovipera mauritanica) und Wüstenotter (Macrovipera desertii) in den Artrang erhoben.

Frage:
Also ist das "lebetina" im Namen heute falsch?

Mario Schweiger:
Na ja, der wissenschaftlich gültige Name ist wie gesagt Macrovipera schweizeri. Aber die Vulgärbezeichnung, also deutscher, englischer bzw. lokaler Name, kann irgendwie sein. In Deutsch sagt man auch Milosviper oder Milos-Levanteotter. In Englisch milosviper oder blunt nose viper, und vor Ort heißt sie eben Lebetina. Lebetina kommt von Levante, der Gegend, wo diese Großviper zum ersten Mal beschrieben wurde, konkret in Zypern.

Frage:
Wo gibt es die Milosviper denn eigentlich noch, außer in Milos?

Mario Schweiger:
Außer auf Milos auch auf Kimolos, Polyegos, Sifnos. Aber nicht auf Antimilos.

Frage:
Viele Leute, die in Milos Urlaub machen, sind sicher noch nie einer Milosviper begegnet. Wo besteht denn vor allem die Möglichkeit, auf eine zu treffen?

Mario Schweiger:
Milosvipern bevorzugen die kleinen Bachtäler, Potamos genannt, die im Sommer austrocknen bzw. sich zu Restwasserpfützen reduzieren. Und sie klettern gerne - besonders im Herbst, also Ende August bis Mitte November, und in der Nacht - auf niedere Bäume und Büsche. Da lauern sie durchziehenden oder schlafenden Vögeln auf. Man sollte also genau auf die Äste vor einem achten, wenn man durch ein Bachbett streift. Aber auch entlang und in den Legesteinmauern an den Feldern findet man die Viper.

Frage:
Wie schütze ich mich grundsätzlich am besten, um nicht in Konflikt mit einer Viper zu geraten?

Mario Schweiger:
Wenn man durch dichtes Gebüsch, speziell in den Bachbetten, wandert, sollte man die Äste stark bewegen. Vermeide es, gebückt unten durch zu klettern, ohne die Äste zu berühren. Es könnte eine Viper über Dir liegen, herunterfallen und versuchen zuzubeißen. Feste Wanderschuhe und weite Jeans sind auch wichtig.

Frage:
Wenn ich nun einer Viper begegne - wie verhalte ich mich am besten?

Mario Schweiger:
Wenn Du einer Viper in sicherer Entfernung, also etwa 1 Meter oder mehr, begegnest, bleib ruhig stehen. In den meisten Fällen hat die Viper Dich bemerkt, bevor Du sie siehst und sie wird sich schnell verkriechen. Sollte sie dennoch liegen bleiben, mach langsamen Schrittes einen Bogen um sie. Sie wird Dich nicht angreifen. Hin und wieder kommt es aber vor, dass man unmittelbar vor einer Viper steht. Meist passiert das, wenn man auf der Suche nach irgendetwas vorsichtig durchs Gelände streift. Mir ist es schon öfters passiert, dass ich meinen Fuß 10 bis 15 cm vor den Kopf einer Viper gestellt habe, ohne dass die Schlange versucht hat, mich zu beißen. Trägt man Wanderschuhe und weite Jeans, braucht man sich fast keine Gedanken machen. Auch hier gilt: Nerven bewahren und ruhig stehen bleiben. Eventuell kann man mit den Armen heftige Bewegungen machen oder an Ästen rütteln, um die wahrscheinlich schlafende Schlange auf sich aufmerksam zu machen. Die Viper wird dann schnell das Weite suchen und in einem Unterschlupf verschwinden. Man darf auf keinen Fall versuchen, nach der Schlange zu treten oder sie wegzuschubsen. Dann könnte es vorkommen, dass der eventuelle Biss unter die Jeans geht.

Frage:
Ich weiß, dass jedes Jahr etwa 20 Schlangenbisse im örtlichen Krankenhaus in Plaka behandelt werden. Betroffen sind eigentlich ausnahmslos Leute, die bei der Arbeit auf dem Feld bzw. im Garten versehentlich eine Schlange überraschen, die sich dann bedrängt fühlt und zubeißt. Bleiben wir konkret bei einem Biss der Milos-Viper - was ist zu tun, wenn es passiert?

Mario Schweiger:
Sollte man gebissen werden - Ruhe bewahren! Mit einer ärztlichen Behandlung innerhalb angemessener Zeit hat man in fast allen Fällen mit keinen Spätfolgen zu rechnen. Nach neuesten medizinischen Erkenntnissen sind die meisten in der Literatur beschriebenen Sofortmaßnahmen kontraindiziert. Niemals sollte man die Bissstelle aufschneiden. Besser als das Abbinden mit einem Gürtel oder ähnlichem ist das Anlegen einer elastischen Binde von der Bissstelle aufwärts in Richtung Herz. Hat man nichts geeignetes zur Hand, sollte man ganz darauf verzichten, bevor man mit einem Gürtel oder ähnlichem abbindet. Wenn man in Begleitung ist, muss man den Partner um Hilfe schicken und selbst im Schatten bleiben und auf Hilfe warten. Ist man allein und hat auch kein Handy dabei, geht man langsam zum nächsten Ort, von wo Hilfe geholt werden kann. Keinen Alkohol oder Kaffee trinken. Nach der ärztlichen Behandlung, eventuell je nach Vergiftungserscheinungen mit Serumgabe, wird man wohl noch tagelang ein geschwollenes Körperglied und auch entsprechende Schmerzen haben. Nach einer Woche sollte aber alles vorbei sein.

Frage:
Eine sehr spezielle Sache interessiert mich noch, vielleicht weißt Du etwas darüber. Es gab angeblich in Milos ein Projekt zur Wiederansiedlung der Macrovipera schweizeri. In der weitgehend unbewohnten Westhälfte der Insel wurden angeblich vor einigen Jahren gezüchtete Vipern aus Helikoptern abgeworfen. Maßgeblich daran beteiligt sollen deutsche Wissenschaftler gewesen sein. Da keiner etwas Genaues weiß, entstehen hier wilde Legenden, die ich von einigen - zum Glück nur von einigen wenigen - Ortsansässigen gehört habe. Die bizarrste Geschichte besagt, dass ein deutscher Arzt regelmäßig wiederkommt und den Schlagen Gift entnimmt, um daraus Drogen - oder wohl eher Medikamente - herzustellen. Weißt Du, ob es hier einen wahren Hintergrund gibt?

Mario Schweiger:
Ein Schauermärchen! Kein Mensch hat Vipern vom Helikopter zur Wiederansiedlung abgeworfen. Sie wären nach einem Sturz von rund 10 Metern tot! Was gemacht wurde: Schwedische - nicht deutsche - Wissenschaftler, nämlich Göran Nilson und Claes Andren, haben in Zusammenarbeit mit Maria Dimaki und Giannis Ioannidis von der Uni Athen ein Markierungsprojekt, auch mit Telemetriesendern, durchgeführt.

Frage:
Das klingt irgendwie seriöser. Ich danke Dir für Deine ausführlichen Auskünfte. Du hast viel Licht ins Dunkel der Gerüchte und Halbwahrheiten gebracht. Wer in Milos wandern möchte oder bei anderer Gelegenheit möglicherweise einer Milos-Viper begegnet, kann sicherlich von Deinen Ausführungen profitieren. Ich werde unser Gespräch ja auf meiner Website veröffentlichen. Möchtest Du den Lesern noch einen abschließenden Rat geben?

Mario Schweiger:
Gern. Zum Schluss das Wichtigste: Töten Sie keine Viper, denn sie stehen unter strengstem Schutz! Auch Giftschlangen haben ihren Platz in der Natur. Bei Begegnungen bleiben Sie ruhig stehen und freuen sich über die Viper, die Sie nur hier sehen können.

Mario Schweiger

Mario Schweiger
Mario Schweiger

Mario Schweiger ist Experte für europäische und mediterrane Amphibien und Reptilien mit Schwerpunkt Vipern. Das Gespräch mit ihm habe ich im Sommer 2009 geführt.

Seine Webseiten:

Und hier erläutert er im einzelnen alle Amphibien und Reptilien der Insel Milos.

Update 04/20